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Zeit der Ruinen: Vorwort von Heinrich Böll, 1965

Heimat und keine

Menschen sind wohl nur da halbwegs zu Hause, wo sie Wohnung und Arbeit finden, Freunde und Nachbarn gewinnen. Die Geschichte des Ortes, an dem einer wohnt, ist gegeben, die Geschichte der Person ergibt sich aus unzähligen Einzelheiten und Erlebnissen, die unbeschreiblich und unwieder­bringlich sind. Ich werde wohl nie den bitteren Geruch von Rohkakao aus dem Mund bekommen, der den Häuserblock Alteburger Straße - Severinswall - Bottmühle - Ubierring frühmorgens schon umzingelte, wenn ich vom Ubierring aus zur Schule ging, und wenn ich irgendwo in der entferntesten Ecke Deutschlands einen Stollwerck-Automaten entdecke oder entdeckte, so ist und war das für mich »heimatlich« wie die Firmenbezeichnung Theodor Kotthoff, Lackfabrik, Köln-Raderthal, die ich auf nicht nur vielen, auf fast allen Güterwagen während des Krieges entdeckte; als Jungen hatten wir auf den »Hängen« des »Sausack« hinter Kotthoffs Lackfabrik Indianer gespielt. Solche Heimat­ Assoziationen sind unauslöschlich wie unzählige andere; ich brauchte nicht am Ort zu wohnen, um sie wiederzufinden; im Gegenteil: mit dem Quadrat der Entfernung wächst ihre Intensität; bei gegenseitiger Annäherung ergibt sich die peinliche Differenz zwischen Erinnerung und Sentimentalität; nah besehen, wird das alles schal und peinlich; man stelle sich vor, ein Maler würde Apfel und Birne aufheben, konservieren, die ihm einmal Modell zu einem Stilleben gewesen sind. Natürlich verliert einer Kindheit und Jugend, wenn er auszieht, das Fürchten zu lernen, und damit hört alles auf, so zu sein, wie »es einmal war«.

Es gibt zwei Köln, die in diesem Sinn »heimatlich« waren: das Vorkriegsköln zwischen Raderthal und Chlodwigplatz, zwischen Vorgebirgsstraße und Rhein, dazu noch die Südbrücke und die Poller Wiesen; das zweite Köln, das in diesem Sinn »heimatlich« war, war schon ein anderes, das zerstörte Köln, in das wir I94 5 zurückzogen. Diese beiden Köln sind Gegenstand der Erinnerung - und der Sentimentalität natürlich.

Es gibt sie beide nicht mehr, und es bleibt die Pein, die jedem Autor auferlegt ist, in diesem Gefälle zwischen Proust und dem (jeweiligen) Ostermann aufrecht zu stehen und gelegentlich auszurutschen. Die Tatsache, daß es sich in diesem Band hier um Fotografien handelt, wird das Buch davor bewahren, als Märchenbuch empfunden und empfangen zu werden; es ist wohltuend, daß der Fotograf sich aller »graphischen« Mätzchen enthalten hat. Die Kamera hat festgehalten, bringt wieder in Erinnerung, was das Auge der Zeitgenossen vergessen hat: dieses zweite Köln. Was nicht sichtbar gemacht werden kann, vielleicht aber spürbar wird: der Staub und die Stille. Staub, Puder der Zerstörung, drang durch alle Ritzen, setzte sich in Bücher, Manuskripte, auf Windeln, aufs Brot und in die Suppe; er war vermählt mit der Luft, sie waren ein Leib und eine Seele; jahrelang die tödliche Qual, gegen alle Vernunft, gegen alle Hoffnung als Sisyphus und Herakles diese Unermesslichkeit des Staubs zu bekämpfen, wie ihn eine zerstörte Stadt von den Ausmaßen Kölns hervorbringt; er klebte auf Wimpern und Brauen, zwischen den Zähnen, auf Gaumen und Schleimhäuten, in Wunden - jahrelang dieser Kampf gegen die Atomisierung unermesslicher Mengen von Mörtel und Stein. Das andere war die Stille, sie war so unermesslich wie der Staub; nur die Tatsache, daß sie nicht total war, machte sie glaubwürdig und erträglich; irgendwo in diesen unermesslich stillen Nächten bröckelten lose Steine ab oder stürzte ein GiDebel ein; die Zerstörung vollzog sich nach. dem Gesetz umgekehrter Statik, mit der Dynamik im Kern getroffener Strukturen; offenbar kann man auch den statischen Kern eines Gebäudes spalten. Oft konnte einer es am hellen Tag beobachten, wie ein Giebel sich langsam, fast feierlich senkte, Mörtelfugen sich lösten, weiteten wie ein Netz - und es prasselte Steine. Die Zerstörung einer großen Stadt ist kein abgeschlossener Vorgang wie eine Operation, sie schreitet fort wie eine Paralyse, es bröckelt allenthalben, bricht dann zusammen. Der freiwillige, weder durch Sprengung noch sonstige akute Gewalt bewirkte Einsturz einer hohen Giebelmauer ist ein unvergesslicher Anblick; in irgendeiner nicht voraussehbaren, schon gar nicht berechenbaren Sekunde gibt dieses schön geordnete, in Zuversicht und Lust zusammengefügte Gebilde nach; es zählt, fast hörbar tickend, knisternd, vom Datum seiner Entstehung auf Null zurück-auch beim Abschuß von Raketen wird auf Null und Nichts zurückgezählt- und gibt sich auf.

Es fällt auf, daß man immer nur an den Osten Deutschlands denkt, wenn das Wort heimatvertrieben fällt. Natürlich denkt man schon gar nicht an die allerersten, die aus der Heimat vertrieben wurden, die Emigranten. Daß die Zerstörung der großen Städte im Westen eine Vertreibung bewirkte, paßt wohl nicht ins politisch-propagandistische Vokabularium. Das Wort »alte Heimat« ist voll melancholischer, das Wort »neue Heimat« voll optimistischer Wehmut. Das Wort Völkerwanderung klingt mißverständlich, zweideutig, weil Wanderung und Wandern so friedliche Wörter sind. In Wahrheit war Volkerwanderung immer Völkerverdrängung; nie ging das ohne Gewalt, da wurde verschleppt, mitgeschleppt, zurückgelassen; mancher, der im Sinne des politischen terminus technicus »heimat­ vertrieben« ist, hat sich hier besser zurechtgefunden als mancher, der seine Heimat im Sinne dieses terminus technicus nie verlor. Das zerstörte Köln war nicht die alte, es war eine zweite Heimat, die schon wieder verloren ist. Köln erschien uns als der angemessene Wohnort. Mir brach der Angst­ schweiß aus, als ich die erste unzerstörte Stadt, Heidelberg, nach dem Krieg wiedersah. Es erschien mir im doppelten Sinn, ästhetisch und moralisch, unangemessen, als eine besonders schlimme Art des Unheils, auf diese Weise heil geblieben zu sein; der Verdacht wollte nicht weichen, daß es verschont worden war, nicht weil es eine Lazarettstadt war-Dresden war auch eine Lazarettstadt - und nicht aus einem Grund, der jede menschliche Siedlung schonungswürdig macht: weil Menschen dort wohnen; der fürchterliche Verdacht, daß dieser deutsche Traum ein Touristentraum war, der seine Weltberühmtheit hauptsächlich einer Operette verdankt. Das Denkwürdige - was Theologen, Philosophen und Psychologen mehr beschäftigen müßte: in den Luftschutzkellern und -bunkern der großen Städte gab es kaum anti-amerikanische oder anti-britische Gefühlsausbrüche, und in den zerstörten Städten (mit der Ausnahme Dresdens vielleicht, dessen Schicksal durch die Plötzlichkeit, das Unerwartete der Zerstörung auf eine potenzierte Weise sinnlos erscheint) lebt kein Groll gegen die Bomber-Generalstäbe nach. Das ist eine ungeheure, bisher weder erfaßte noch erklärte Tatsache, die weder natürliche noch rationale Ursachten haben kann. Die Deutschen haben dieses Geheimnis, warum sie sich vom Westen so ergeben bestrafen ließen und vom Osten keinen Streich hinnehmen wollen, noch nicht preisgegeben.

Es gab in den ersten Nachkriegsjahren außer Staub und Stille noch etwas, das, nicht durch Anführungszeichen gesichert, in dieser dritten Heimat, die Bundesrepublik heißt, als Provokation empfunden werden muß: Besitzlosigkeit. Jeder besaß das nackte Leben und außerdem, was ihm unter die Hände geriet: Kohlen, Holz, Büro.er, Baumaterial. Jeder hätte jeden mit Recht des Dieb­ stahls bezichtigen können. Wer in einer zerstörten Großstadt nicht erfror, mußte sein Holz oder seine Kohlen gestohlen haben, und wer nicht verhungerte, mußte auf irgendeine gesetzeswidrige Weise sich Nahrung verschafft haben oder haben beschaffen lassen. Wahrscheinlich ist diese ganze Kriminalität des Ausnahmezustandes, die in der zweiten Heimat dynamisch war, in der dritten wieder statisch geworden, übertritt nicht mehr geschriebene, nur noch ungeschriebene Gesetze, schreit wahrscheinlich heute bei der geringsten Gelegenheit: »Haltet den Dieb!«

Das jetzige Köln ist vom ersten und zweiten so weit entfernt wie Frankfurt oder Stuttgart; natürlich: es gibt noch ein paar Erkennungszeichen, Markierungspunkte, und Kölns Geschichte ist gegeben. Für viele, deren Geschichte als Person erst beginnt, ist es erste Heimat. Möglicherweise wird für sie eines Tages auch die Fotografie in den Bereich des Märchens rücken. Was auf diesen Fotos zu sehen, ist wahr, aber unglaublich. Vielleicht werden sie nicht gern wahrhaben wollen, was da weiß auf schwarz auf einer Schultafel geschrieben steht und schwarz auf weiß fotografiert ist: Kölner Kinderspeisung der Irischen Spende. Und ob der Vater, der diese Speisung empfing, ihnen gestehen wird, daß der Großvater zu Hause darauf lauerte, ob im Kochgeschirr noch ein Rest übriggeblieben war? In Irland weiß jedes Kind, was »Tue Great Famine« (Die große Hungersnot) war. Sie fand aufs Jahr genau hundert Jahre vor der unseren statt. Forschungen haben bewiesen, daß alles, was darüber mündlich und schriftlich erzählt worden ist, nicht über-, sondern eher untertrieben war. Offenbar kommt die menschliche Phantasie und Fabulierlust gegen Dokumente nicht an. Unwiderlegbar beweisen diese Fotos, daß am Anfang der dritten Heimat Zerstörung und eine große Hungersnot waren.


HEINRICH BöLL

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